KUNSTBEUTEL 2014

Mich hat es sehr erstaunt, als ich im Sommer einen Anruf der Kulturbehörde bekam, und mir ein Angebot gemacht wurde, das ich nicht ablehnen konnte …
Nun denn, in Anbetracht des kompletten Kulturlebens der Stadt ist mein Urteil so objektiv, wie ich ein mündiges Subjekt bin.
Da bei den meisten regionalen und überregionalen Stipendien meist junge, gut vernetzte Leute bevorzugt werden, habe ich mich in ganz anderen Richtung umgesehen und mein Augenmerk auf nicht mehr ganz so junge Künstlerinnen und Künstler gelegt, die trotz ihres langjährigen Schaffens kaum bzw. absurderweise nach wie vor nicht von ihrer Kunst leben können.
All jene, alle so um die 40, haben sich schon lange um die Hamburger Kunstszene und die Hamburger Kunst verdient gemacht. All jene sind oft in einer schwierigen Situation. Von den jüngeren Kollegen werden sie oft als etabliert missverstanden und im selben Rutsch nicht in deren Aktivitäten miteinbezogen. Auch bei den Galerien und Institutionen der Stadt haben sie einen schweren Stand, da diese meistens nach ‚Frischfleisch‘ oder großen und vermeintlich sicheren Namen gieren. Und zu guter Letzt sind diese Künstlerinnen und Künstler dann doch noch zu jung, um mit großem Tammtamm und Trara wiederentdeckt zu werden – sie waren ja aber auch nie ‚weg‘. Zum Glück!
Ein weiterer Faktor bei meiner Auswahl war, dass heutzutage meistens nach nacherzählbaren Konzepten und Theoriegebäuden verlangt wird, wenn es um Stipendiumsvergaben geht. Oft scheint es mir, als ob Kunst dann nur noch zur Illustration da wäre und all jene, die noch idealistisch auf dieselbe vertrauen und bereit sind, sich ihr auszuliefern – vor allem auch wenn sie klassische Ausdrucksformen wie Malerei oder Fotografie benutzen –, gern als reaktionäre und ewiggestrige Substanzialisten geschmäht werden.
Dem Trugschluss, dass nur von Interesse sei, was möglichst gegenwärtig oder ›hip‹ ist, gilt es entschlossen entgegenzutreten. Gerade, weil die sogenannte kontemporäre Kunst sich leider zu oft als angepasst und systemkonform entpuppt und am nächsten Morgen zumeist schon ziemlich alt aussieht.
Viele der von mir berücksichtigten Menschen haben über ihr eigentliches Werk hinaus noch diverse andere Aktivitäten vorzuweisen, haben Gruppen gegründet, organisieren Ausstellungen, betreiben Ausstellungsräume oder sogar Galerien und tragen dadurch dazu bei, dass Hamburg eine lebendige, unangepasste und unberechenbare Kunststadt bleibt.
Weiterhin möchte ich einige Orte, Initiativen,Institutionen und Personen fördern, die sich zum Teil schon seit Jahrzehnten in Hamburg behaupten und für ein soziales, politisches und kulturelles Leben abseits von Verwertbarkeit und Spektakel mehr als wichtig sind:
Die Rote Flora gibt es nun seit 25 Jahren, den Golden Pudel Club seit über 20 Jahren, und beide haben es geschafft, bis heute unangepasst und glaubwürdig zu bleiben. Sie bieten vielen Menschen in Hamburg die Möglichkeit, andere und überraschende Dinge zu erleben und aktiv mitzugestalten. An diesen Orten scheint es möglich, von Utopien zu reden und diese, manchmal auch nur für eine Nacht, zu leben oder für eine Weile zu ihnen zu tanzen. Das Schwabinggrad Ballett wähle ich stellvertretend für die diversen Bewegungen in der Stadt, die sich mit den herrschenden Verhältnissen nicht zufrieden geben und diese mit künstlerischen Mitteln herauszufordern versuchen.
Wenn bei manchen dieser Gruppen die Kunst nur als Mittel zum Zweck (für das sogenannte „Politische“) benutzt wird und es dann meistens zwar gut gemeint und stadtpolitisch oft auch toll ist, künstlerisch aber eher uninteressant bleibt, scheint bei den drei genannten ‚ Institutionen‘ doch eine gewisse Sprengkraft vorhanden.
Dann möchte ich auf die Trommelstraße 7 auf St. Pauli hinweisen, wo durch, mit und über die Kunst eine Möglichkeit aufscheint, ein anderes Leben zu leben, Kunst und Leben vielleicht doch noch in Einklang zu bringen. In der Verknüpfung eines Ausstellungsraumes, einer Bibliothek, diversen Ateliers, des 8. Salons und einer Galerie entstehen dort offene und sich ständig bewegende Plattformen, die sowohl für die dort ‚arbeitenden‘ Menschen (eigentlich ist ja gerade keine schnöde ‚Arbeit‘, die dort und auch sonst bei jeder künstlerischen Tätigkeit geschieht) als auch für die Besucher, die vielmehr zu aktiven Teilnehmer werden, immer neue Situationen und Gedanken hervorzubringen im Stande sind.
Zuletzt möchte ich noch zwei Personen hervorheben, ohne welche Hamburg definitiv ein sehr viel uninteressanterer Ort wäre. Sowohl Nora Sdun als auch Roberto Ohrt sind schon lange in der sogenannten kulturellen Sphäre der Hansestadt (und darüber hinaus!) tätig.

Hier nun aber endlich die Gebeutelten:

// Dirk Meinzer erhält 1.000,00 EUR
Laut Wikipedia ist er ein postkonzeptueller Künstler, sein Werk besteht aus Malerei, Zeichnung, Objekten, Performances, Installationen, Büchern sowie Assemblagen mit organischem Material wie Teilen von Tieren, Lebensmitteln oder Fäkalien. Zudem ist er Teil der Künstlergruppe „friends and lovers“ und hatte zeitweise einen Lehrauftrag an der HfBK inne.

// Carola Deye erhält 1.000,00 EUR
Sowohl ihr Werk als auch ihr Engagement bezüglich des Nachlasses der vor 2 Jahren verstorbenen Künstlerin Helena Huneke schätze ich sehr. Auch sie Teil von „friends and lovers“.

// Martin Scholten erhält 1.000,00 EUR
Er bewegt sich auf seinen Bildern im abstrakten Raum und stellt unter anderem mittels selbstgebauten Malmaschinen seine, durch scheinbar freischwebende Farblinien und Geflechte gekennzeichneten Gemälde her.

// Miguel Martinez erhält 1.000,00 EUR
Als Photograph hat er ein unbestechliches und zudem sehr gutes Auge, ihm entgeht so gut wie nix bei seinen Streifzügen durch die Stadt. Man könnte ihn in der Tradition von Weegee sehen, als einen visuellen Stadtschreiber, der mit seiner Kamera festhält, was sich auf und unter den Straßen der Stadt zuträgt. Seine Fotos sind auf seiner Flickr-Seite zu sehen und er hat an zahlreichen Gruppenausstellungen in und außerhalb von Hamburg teilgenommen.

// Henning Kles erhält 1.000,00 EUR
Schon seit Jahren als Maler und mittlerweile auch als Professor an der HAW tätig, umkreisen seine Bilder das Unheimliche und den langsamen Abschied von der Illustration hin zum Bild.

// Sascha Schäfke erhält 1.000,00 EUR
Er ist Maler, Filmemacher und Musiker. Seine für’s Internet selbstproduzierte Serie „Creme brulée“ versucht sich an der Herkulesaufgabe, so etwas wie die durchgeknallte BBC-Serie „The Mighty Boosh“ auf Deutsch neu zu erschaffen – bisher noch mit ungewissem Ausgang.

// Alex Sollmann erhält 1.000,00 EUR
Künstler und Grafiker, Illustrator unter dem Pseudonym c.i.alex, auf eine Art art-director des Golden Pudel Club. Er ist verantwortlich für den Großteil der Flyer und Poster des Clubs und hat dazu unzählige Plattencover und Bühnenbilder gestaltet. Seine Werke wurden unabhängig ihres Gebrauchswert schon in kleinen Galerien in Hamburg gezeigt. Ausgehend von Porträts der im Pudel auftretenden Künstlern hat er sich immer tiefer durch das Stilwirrwarr der Moderne (sowie seiner eigenen Handschrift) gezeichnet und überrascht jeden Monat auf’s Neue mit garantiert jeglichem Kommunikationsdesign unwürdigen Werken.

//Nora Sdun erhält 1000.- Euro
Sie hat sich schon sehr lange um das kulturelle Leben der Stadt verdient gemacht. Sei es wie in den 00er Jahren mit der Schaufenstergalerie Trottoir auf St.Pauli oder mittlerweile mit der Galerie Dorothea Schlüter, welche sie zusammen mit Sebastian Reuss und Gor Zanki leitet. Stets kümmert sie sich darum, sowohl jungen als auch vergessenen Positionen einen Raum zu bieten. Darüber hinaus ist sie mitverantwortlich für den Textem Verlag und sitzt auch in der Redaktion der mittlerweile weit über Hamburgs Grenzen hinaus bekannten Kulturzeitschrift “Kultur und Gespenster”.

// Roberto Ohrt erhält 3.000,00 EUR
Der promovierte Kunsthistoriker Ohrt steht wie kaum ein anderer in Hamburg für eine kompromisslose Haltung mit einem präzisen und unbestechlichen Auge. Statt sich einer akademischen Laufbahn zu widmen, war er stets an künstlerisch-sozialen Gegenbewegungen beteiligt – von den Wohlfahrtsauschüssen über die Akademie Isotop bis hin zum 8. Salon, wo er heute seine private Bibliothek zu einer öffentlich frei zugänglichen Präsenzbibliothek umgewandelt hat. Darüber hinaus ist er eine treibende Kraft innerhalb der Forschungsgruppe Mnemosyne, die für 2015 anscheinend plant, ihre weit über die Bildanalyse der abgebildeten Werke hinausgehenden Ergebnisse in einem umfangreichen Buch zu veröffentlichen.

// Thomas Schumann erhält 3.000,00 EUR
Als Künstler bewegt er sich quer durch die verschiedenen Medien, sucht sich das jeweils passende für seine Projekte heraus. Sowohl mit Kurzfilmen, Skulpturen als auch Zeichnungen, Malerei und raumgreifenden Installationen scheint er sich jedes Mal neu zu erfinden. Seit etlichen Jahren tritt er zudem als Ausstellungsmacher in Hamburg in Erscheinung: u.a. war er maßgeblich am „ding dong“-Festival (2006) beteiligt. Momentan betreibt er zusammen mit dem Künstler Henrik Malmström die Müllkellergalerie – beheimatet in einem tatsächlichen Müllkeller, der sich unregelmäßig für jeweils einen Abend in eine Galerie verwandelt und unbekannten wie auch schon etablierten Künstlerinnen und Künstlern eine etwas andere und vor allem unprätentiöse Plattform bietet.

// Timo Roter erhält 6.000,00 EUR
Roter scheint noch an das Revolutionäre sowohl in der Malerei als auch an sich zu glauben. Er erhält die Summe auch stellvertretend für alle Künstle,r mit denen er sich das Atelier in der Trommelstrasse 7 teilt. Dort wird tatsächlich noch mit Vehemenz der Pinsel geschwungen, ohne Angst vor Fehltritten oder Materialermüdung.
Darüber hinaus ist er Hamburgs Mann in Manila. Er pendelt regelmäßig zwischen beiden Städten und hat in den letzten Jahren mehrmals in Manila Hamburger Ausstellungen organisiert sowie eine Gruppe junger, philippinischer Künstlerinnen und Künstler ermöglicht, in Hamburg auszustellen. Für 2015 arbeitet er an einem Residency-Programm, das sowohl auf den Philippinen als auch in Hamburg den kulturellen Austausch mit dem jeweils anderen Land durch einen zeitlich begrenzten Aufenthalt ermöglichen soll.

// Guntram Krasting erhält 10.000,00 EUR
Er ist freischaffender Photograph und Regisseur. Seine Bilder z.B. aus Indien kenne ich schon lange und sie üben eine große Faszination auf mich aus. Sie gehen weit über die oberflächliche Faszination des exotischen Aufnahmeortes hinaus. Jedes dieser Bilder scheint seine eigene Geschichte, seinen eigenen ‚Film‘ in sich zu tragen. Leider existieren sie bisher nur digital. Er plant ein narratives Fotobuch, bestehend aus Zufallsmomenten, fotografiert in einer ländlichen, indischen Dorfgemeinschaft. Dabei soll aus persönlichen Kommentaren der einzelnen Protagonisten in einem beliebigen Zusammenhang eine fiktive Storyline entstehen. An einem begleitendem Kurzfilm arbeitet er auch.
Darüberhinaus plant er schon lange einen surrealen Kurzfilm, der seine Protagonisten, sich an Homer anlehnend, auf eine ungewisse Reise durch die Strassen Hamburgs schickt und zu welchem er Story und Drehbuch verfasst hat. Auch das soll 2015 Wirklichkeit werden.

// Schwabinggrad Ballett erhält 1.000,00 EUR
Zuerst fiel mir das Schwabinggrad Ballett auf einer Demo vor ein paar Jahren auf: eine kleine Gruppe, die, als Spielmannszug verkleidet, versuchte, sich durch eine von der Polizei abgesperrte Straße zu ‚musizieren‘. Dabei entstand eine neue Situation, mit der sowohl die Beamten als auch die eigentlichen Demonstranten ihre liebe Mühe hatten, umzugehen. Wie heißt es so hübsch: ein „aktivistisch künstlerisches Kollektiv aus Hamburg, das jenseits ritualisierter linker Protestformen unerwartete Situationen herstellt“ …

// Rote Flora erhält 4.000,00 EUR
Seit nunmehr 25 Jahren besteht die Rote Flora und dank ihr scheint das Schanzenviertel noch nicht vollständig ausverkauft. Das „Archiv für soziale Bewegung“ sowie die Siebdruckwerkstatt sind dabei nur zwei von vielen Gründen, diesen Ort zu besuchen und zu erhalten.

// Golden Pudel Club erhält 10.000,00 EUR
Der Golden Pudel Club steht seit über 20 Jahren quer zum Establishment und kämpft mit Hilfe von Ausstellungen, Konzerten, Lesungen und natürlich Tanz- und Nichttanzveranstaltungen für eine andere Art von Kultur, Kunst und Spiel. Einer der wichtigsten Treffpunkte in Hamburg für Künstler, Musiker und Menschen. Sogar eine eigene Kunstmesse fand dort bereits mehrmals statt: die Pudel Art Basel! Im Augenblick scheint der Fortbestand des Clubs allerdings durch einen Streit der Eigentümer gefährdet und so benötigt der deswegen gegründete Verfüge e.V. (Pudel Verein für Gegenkultur e.V.) jede erdenkliche Unterstützung, um Schlimmeres zu verhindern. Stellvertretend für den Golden Pudel Club erhält der Verfüge e.V. die Summe.

// 8. Salon erhält 5.000,00 EUR
Der 8. Salon ist ein selbstorganisierter und von allen Beteiligten selbstgetragener Verein, der sich als interdisziplinär aufgestellte Plattform kultureller Praxis für die Produktion, Distribution und Präsentation von Filmen, Texten, Kunstwerken, Büchern und Zeitschriften versteht. Er befindet in einer ehemaligen Bücherhalle, in der nun Ausstellungen stattfinden. Regelmäßig gibt es Filmabende, Lesungen und Konzerte, auch trifft sich die Forschungsgruppe Mnemosyne wöchentlich im 8. Salon, stets auf den Spuren der Geheimnisse des Bilderatlas von Aby Warburg.